Freitag, 14. April 2006

Gouvernementalität und Historiographie

In seinen Vorlesungen am Collège de France in Paris beschäftigt sich Michel Foucault Ende der 70er Jahre mit Fragen rund um die Genealogie des modernen Staates und die Entstehung des damit verwobenen politischen Wissens. Eine wesentliche Rolle spielt dabei der Begriff ‚Regierung’: „Es ist ein umfassender Begriff […], der weder mit staatlichen Institutionen identisch noch auf das politische System beschränkt ist, sondern auf unterschiedliche Handlungsformen und Praxisfelder verweist, die in vielfältiger Weise auf die Lenkung und Führung von Individuen und Kollektiven zielen.“ Damit stelle der Begriff, so Thomas Lemke, einerseits eine Verbindung zwischen Macht und Subjektivität her, der Foucaults Forschungen zur Entstehung der modernen Subjektivität mit den Forschungen zu den ‚Technologien des Selbst’ kompatibel macht. Andererseits eröffne der Begriff die Möglichkeit systematischer Untersuchungen des Zusammenhangs von Machttechniken und Wissensformen. All diese Zusammenführungen konvergieren im Begriff ‚Gouvernementalität’, der gouverner und mentalité verschränkt und damit einen Ausweg aus Ideologiemodellen einerseits, und aus soziologischen, statistischen Untersuchungen andererseits anbietet. Die Institutionen und Praktiken der Menschenführung stehen damit im Mittelpunkt der Untersuchung von Wahrheitspraktiken und Wahrheitsproduktion.

Foucault verfolgt also zunächst eine historische Perspektive, und sucht nicht nach Möglichkeiten einer Operationalisierung des Konzepts ‚Gouvernementalität’. Damit werden all die Fragen nach der Historio-graphie und der Geschichts-schreibung virulent, die Foucault als mehr oder weniger offensichtlicher Subtext ständig begleitet haben. Die Frage, wie sich eine Geschichte des Denkens schreiben ließe, die das Denken der Geschichte integriert und dabei auf die Mittel und Methoden zurückgreift, die das geschichtliche Denken erst ermöglicht haben, weist greift auf diese Problematik über. Mit der Ergänzung des Konzepts der Archäologie durch die Genealogie versucht Foucault, auf das Problem zu reagieren, dass der Historiker derjenige ist, der seinen eigenen Problembereich konstituiert. Diese Paradoxa werden im Essay ‚Nietzsche, die Genealogie, die Historie’ aufgegriffen:

„Wenn aber Interpretieren heißt, sich eines Systems von Regeln, das in sich keine wesenhafte Bedeutung besitzt, gewaltsam oder listig zu bemächtigen, und ihm eine Richtung aufzuzwängen, es einem neuen Willen gefügig zu machen, es in einem anderen Spiel auftreten zu lassen und es anderen Regeln zu unterwerfen, dann ist das Werden der Menschheit eine Reihe von Interpretationen. Und die Genealogie muss ihre Historie sein: die Geschichte der Moralen, der Ideale, der metaphysischen Begriffe, die Geschichte des Begriffs der Freiheit oder des asketischen Lebens, welche auf dem Theater der Handlungen und Gerichtsverfahren auftreten.“

Damit zerstört die Genealogie die Illusion einer kontinuierlichen, konstitutiven historischen Entwicklung zugunsten einer Affirmation der Diskontinuität, und verweist damit wiederum auf eine tiefere Kontinuität, die als Resultat von Transformationen auftritt. Die Position des Genealogen ist also die eines nicht mehr objektiven, nicht mehr außenstehenden Betrachters, sondern soll die eigene Unhintergehbarkeit als Schreiber von Geschichte reflektieren. Das Ziel ist eine Beschreibung von Transformationen statt der Suche nach Ursprüngen, Erfindern und Taten, ohne die Position des Historikers in diesem Prozess zu vernachlässigen.

Die Archäologie ist in diesem Sinne die andere Seite der Medallie: sie soll die Diskursformationen untersuchen, die Aussagen überhaupt erst ermöglichen – und damit auch die Aussagen des Historikers. Die Archäologie ist also eine Art methodischer Rahmen (in Abgrenzung zur Hermeneutik und zur Sozialgeschichte), während die Genealogie ihr Ziel in der Beschreibung von Transformationsprozessen findet.

In den Gouvernemental Studies geht es hingegen vornehmlich um Fragen der Operationalisierung und Anwendung des Konzepts der Gouvernementalität als Analyseinstrument. Und genau dieser Umschwung, seine theoretischen Grundlagen und Möglichkeiten, sollen hier thematisiert werden. Wie lässt sich ein historiographisches Konzept auf die Gegenwart anwenden?


(1) Vgl. LEMKE, Thomas (2001): ‚Die Ungleichheit ist für alle gleich’ – Michel Foucaults Analyse der neoliberalen Gouvernementalität. In: In: Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhundert, Jg. 16, Band 2, S. 99-115.
(2) FOUCAULT, Michel (1971): Nietzsche, die Genealogie, die Historie. In: FOUCAULT, Michel (1987): Von der Subversion des Wissens. Herausgegeben von Walter Seitter. Frankfurt/Main, Fischer. S. 78

Gouvernementalität und Studien

Das Konzept der Gouvernementalität entsteht aus Foucaults Kritik an seinem eigenen Konzept von Macht, dessen Verbindung zur Subjektivität und zum Staat. Durch den Regierungsbegriff sollen Macht und Subjektivität auf einer anderen Ebene als in den bisherigen Schriften verschaltet werden, um so einen Zusammenhang zwischen Technologien des Selbst, Herrschaftstechniken und Machtdispositiven zu vermitteln. Die neue Perspektive besteht darin, „Subjektivierung und Staatsformierung unter einer einheitlichen Perspektive zu untersuchen.“ (1) Wie zu erwarten geht es hier jedoch nicht um den Entwurf eines schematischen Analyseinstruments. Stattdessen leitet Foucault die Ideen zur Gouvernementalität aus historischen Untersuchungen unter anderem zum Neoliberalismus, zur Antike und zum Christentum sowie zum Rassismus her, für die auch der Begriff Biomacht eine entscheidende Rolle spielt. Diese historische Argumentation soll hier um die Epoche der Policey ergänzt werden, ohne jedoch eine zeitliche Reihung einzuführen. Vielmehr geht es in all diesen Beispielen um verschiedene Technologien der Macht. Dabei wird sich aller Voraussicht nach herausstellen, dass policeyliche und pastorale Führungtechniken struktuelle Ähnlichkeiten aufweisen und „Subjektivierungsformen hervorbrachten, auf denen der moderne Staat und die kapitalistische Gesellschaft aufbauten.“ (2) Damit geht es Foucault um die Verknüpfung der drei Ebene Moral, Ökonomie und Politik, wie sie sich auch für die Policey aufweisen lässt: „Auf jeden Fall können Sie erkennen, dass innerhalb dieser Kontinuität die Regierung der Familie, die man zu Recht als ‚Ökonomie’ bezeichnet, ebenso in der Lehre von der Erziehung des Fürsten wie in der Policey das Hauptstück, das zentrale Element, ist.“ (3)

Gouvernementale Strukturen sind deswegen eng an Zweck- und Zielsetzungen gebunden, weil die Regierungsrationalitäten darauf angewiesen sind, zu ordnen, ein- und auszuschließen und so Normativitäten einzuführen. Dabei muss jedoch unterschieden werden zwischen den Disziplinartechnologien, wie sie Foucault in Überwachen und Strafen behandelt, und den Sicherheitstechnologien. „Die Sicherheitstechnologie repräsentiert das genaue Gegenteil des Disziplinarsystems: Geht dieses von einer (präskriptiven) Norm aus, so ist der Ausgangspunkt des Sicherheitssystems das (empirisch) Normale, das als Norm dient und weitere Differenzierungen erlaubt. Statt die Realität an einem zuvor definierten Soll auszurichten, nimmt die Sicherheitstechnologie die Realität selbst als Norm: als statistische Verteilung von Häufigkeiten, als Krankheits- Geburten- und Todesraten. […] Für die weitere Arbeit unterscheidet Foucault daher analytisch zwischen der rechtlichen Norm, der disziplinären Normierung und der Normalisierung der Sicherheitstechnologie.“ (4) Damit entsteht eine weitere Schwierigkeit für die Operationalisierung des Konzepts: Es muss streng zwischen den Formen der Zwecksetzung unterschieden werden, denn nur so wird gewährleistet, dass Aspekte der Normierung von Subjekten nicht mit den Praktiken der Selbstformierung verwechselt werden. „Unter Gouvernementalität verstehe ich die Gesamtheit, gebildet aus den Institutionen, den Verfahren, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktiken, die es gestatten, diese recht spezifische und doch komplexe Form der Macht auszuüben, die als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als Hauptwissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat.“ (5)

Es sollte dabei am Ende offensichtlich geworden sein, dass es zwar begrüßenswert ist, Foucault über Foucault hinauszutreiben, ihn zu benutzen, zumal er selbst sich bewusst war, dass seine Studien eine begrenzte Haltbarkeit haben und letztlich auch unabgeschlossen blieben. Die Widersprüche und Unklarheiten weisen darauf hin. Trotzdem erscheint es mir problematisch, von den genealogisch-historischen Fragestellungen abzusehen, und das Gouvernementalitäts-Konzept isoliert zur Analyse von gesellschaftlichen Transformationen zu benutzen.


(1) LEMKE, Thomas/KRASMANN, Susanne/BRÖCKLING, Ulrich: Gouvernementalität, Neoliberalismus und Selbsttechnologien. Eine Einführung. In: Dies. (Hrsg., 2000): Gouvernementalität der Gegenwart. Frankfurt/Main: Suhrkamp. S. 10
(2) Dies., S. 11
(3) FOUCAULT, Michel (1978): Die Gouvernementalität. In: LEMKE, Thomas/KRASMANN, Susanne/BRÖCKLING, Ulrich (Hrsg., 2000): Gouvernementalität der Gegenwart. Frankfurt/Main: Suhrkamp. S. 48
(4) LEMKE, Thomas/KRASMANN, Susanne/BRÖCKLING, Ulrich: Gouvernementalität, Neoliberalismus und Selbsttechnologien. Eine Einführung. In: Dies. (Hrsg., 2000): Gouvernementalität der Gegenwart. Frankfurt/Main: Suhrkamp. S. 13
(5) FOUCAULT, Michel (1978): Die Gouvernementalität. In: LEMKE, Thomas/KRASMANN, Susanne/BRÖCKLING, Ulrich (Hrsg., 2000): Gouvernementalität der Gegenwart. Frankfurt/Main: Suhrkamp. S. 64

Selbsttechnologien Medientechnologien

Projektarbeit für das Seminar Medientechnologien/ Selbsttechnologien, Prof. Dr. Eva Warth und Hanna Surma, an der Ruhr-Universität-Bochum, Wintersemester 2005/2006 - Sommersemester 2006

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